Was vermittelt ein Besuch der KZ-Gedenkstätte Moringen?

Als junge Frau brannte Hedwig Regnart nach der Erfahrung des 1. Weltkriegs für eine Idee: Esperanto, eine Kunstsprache. Wenn sich die Welt in einer gemeinsamen Sprache verständigen kann, so ihre Vision, können Konflikte und damit Kriege verhindert werden. Die Jüdin Elsa Conrad schuf in Berlin mit ihrem Club „Monbijou des Westens“ einen Raum für eine lesbische Kultur. Günther Discher hatte eine Leidenschaft: Swing-Musik. Siegfried Schütt wollte nichts anderes, als als Sinto in der Mehrheitsgesellschaft sein Leben zu gestalten. Alle vier Personen verbindet die Erfahrung von NS-Verfolgung und Haft in einem der drei Moringer Konzentrationslager.

Warum fühlte sich das NS-System durch diese Menschen so sehr verunsichert und bedroht, dass es mit Verfolgung und KZ-Haft reagierte? Aufgrund der unterschiedlichen und beinahe über den gesamten Zeitraum der NS-Diktatur bestehenden Lager finden sich dazu in den Lebensgeschichten der Moringer Häftlinge aufschlussreiche und bewegende Antworten.

Um verstehen zu können, was auf dem Spiel steht, wenn heute Angriffe auf Demokratie, eine diverse Gesellschaft und die Menschenrechte erfolgen, ist es lohnend, sich mit den Visionen und Lebensentwürfen der NS-Verfolgten auseinanderzusetzen. Hier finden sich Bezüge zu den Lebensentwürfen heutiger Jugendlicher. Es wird deutlich, was heute durch einen Rechtsruck an Freiheiten, Rechten, Werten und Visionen verloren zu gehen droht.

Moringen wurde im April 1933 als eines der ersten Konzentrationslager im NS-Staat gegründet. Hierbei spielten Polizeibehörden eine wichtige Rolle. Heute lernen Polizistinnen und Polizisten in der Gedenkstätte, welche Handlungsspielräume ihre Berufskollegen damals hatten und warum Zivilcourage, Menschlichkeit und ein demokratisches Selbstverständnis fundamentale Werte der Polizeiarbeit sein müssen. Dabei erscheint die Geschichte nicht abstrakt – wie in einem Lehrbuch -, sondern sehr konkret; schließlich hat sie genau hier stattgefunden. Am Ende eines Besuchs der Gedenkstätte geht es zum Gräberfeld auf dem Moringer Friedhof, um der Opfer des Jugend-KZ zu gedenken.

Und was wurde aus Hedwig Regnart, Elsa Conrad, Günther Discher und Siegfried Schütt? Hedwig Regnart litt schwer an den Folgen der Haft und verarbeitete ihre Erfahrungen in ausdruckstarken Kohlezeichnungen. Elsa Conrad fand dank der Hilfe einer Freundin eine sichere Zuflucht in Ostafrika und kehrte erst in den 1960er Jahren nach Deutschland zurück. Günther Discher blieb Zeit seines Lebens seiner musikalischen Leidenschaft für den Swing treu. Siegfried Schütt wurde gemeinsam mit den anderen Sinti des Jugend-KZ im März 1943 nach Auschwitz deportiert.

Dietmar Sedlaczek

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